E. Demm u.a. (Hrsg.): Habitus und Sozialprofil von Gelehrten

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Titel
Akademische Lebenswelten. Habitus und Sozialprofil von Gelehrten im 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Damm, Eberhard; Jarosław, Suchoples
Erschienen
Frankfurt am Main 2011: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
290 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Jürgen von Ungern-Sternberg

Längst schon beschäftigt sich die Wissenschaft auch mit sich selbst, indem sie ihre eigene Problemgeschichte wie die Biographien bedeutender Wissenschaftler erforscht. Zunehmend kommt aber zudem die Vernetzung der Wissenschaftler als Voraussetzung für Karrieren und Wirksamkeit in den Blick, wobei das Werk von Pierre Bourdieu, Homo academicus (Paris 1984; deutsch Frankfurt am Main 1988) Massstäbe gesetzt hat.

Unter Bezugnahme auf dessen Kategorien (S. 9–11) haben Eberhard Demm und Jarosław Suchoples auf einer deutsch-polnischen Tagung einen bunten Strauss von einschlägigen Untersuchungen zusammengebunden. Untersucht soll werden die Herkunft wie das private Umfeld und der Lebensstil der Gelehrten, ebenso aber die Frage, wie sie ihr Prestige, ihr Machtkapital, innerhalb der Universität und ausserhalb, etwa in Politik und Gesellschaft verwerten konnten. Dabei kommen endlich auch die Frauen ins Blickfeld, in ihrer Beziehung zu Gelehrten, aber auch ihr mühsamer Aufstieg zu eigenständigen Karrieren.

Im einzelnen gehen die Beiträge zu dem Band dabei sehr verschiedene Wege. Einige bleiben im Bereich der Biographie einzelner Gelehrter: Susan Splinter über Christian Gottlieb Kratzenstein (1723–1795), Physiker und Mediziner an den Akademien von St. Petersburg und Kopenhagen und dort auch an der Universität (S. 19–31); Richard Bräu über den Nationalökonomen Lujo Brentano (1844–1931), zuletzt in München (S. 69–79); Eberhard Demm über den Nationalökonomen und Soziologen Alfred Weber (1868–1958), zuletzt in Heidelberg (S. 105–135); Jan Eike Dunkhase über den Historiker Werner Conze (1910–1986), zuletzt in Heidelberg (S. 189–198). Von Netzwerkbildung kann freilich nur im Falle von Brentano die Rede sein, der vor allem über den ‘Verein für Sozialpolitik’ Einfluss hatte, mehr noch bei Alfred Weber, dessen Bedeutung für das Heidelberger‘ Institut für Sozial- und Staatswissenschaften’ während der Weimarer Republik und dessen weitverzweigte öffentliche Tätigkeit vor und nach dem Dritten Reich Demm auf Grund seiner zahlreichen Vorarbeiten souverän nachzeichnet. Einen bemerkenswerten Kontrapunkt setzt Bärbel Meurer (S. 81–104) mit ihrem Beitrag zu Marianne Weber (1870–1954), der als Frau ein reguläres Studium versagt geblieben ist, die aber in der Frauenbewegung öffentliche Wirksamkeit erreichte und zugleich auch wissenschaftlich Beachtliches geleistet hat.

Bei Meurer finden sich im übrigen sehr bedenkenswerte Überlegungen zur Frage, ob die Kategorien Bourdieus für Deutschland überhaupt zutreffend seien, wobei sie insbesondere auf die tiefgreifenden Brüche in der deutschen Geschichte verweist (S. 99–100). Wenn sie abschliessend bemerkt: «Allgemein könnte man sagen, Bourdieus Begriffe sind zu unhistorisch, sie setzen das gesellschaftliche Umfeld als das immer schon Gegebene – und Richtige – voraus», so kommt freilich noch etwas anderes ins Spiel: die Zentralisierung des französischen Wissenschaftsbetriebes in Paris, wo sich die Kämpfe um Einfluss und Macht in einem sehr viel übersichtlicheren Rahmen abspielen als in dem föderalistisch strukturierten deutschen Universitätswesen.

Im Falle von Conze wird nur das Ende seiner Laufbahn, insbesondere sein pessimistischer Blick auf die deutsche Hochschulentwicklung nach 1968 behandelt. Aus anderer Perspektive, der eines jungen Assistenten, schildert Hartmut Soell die Studentenbewegung in Heidelberg (S. 175–188). Aufgrund von fünf narrativen Interviews analysiert Ingrid Hudabiunigg die teilweise mühsame Karriere der ersten Professorinnen nach 1968. Eine Spätfolge der Studentenbewegung mag auch das Aufkommen von Campusromanen angloamerikanischer Tradition in Deutschland sein. Kathrin Klohs glaubt aber wohl zu sehr, diesen gattungsgemäss grotesk überzeichnenden Romanhandlungen Hinweise auf die Verhältnisse an deutschen Universitäten entnehmen zu können (S. 137–152) – auch wenn manche Zustände gewiss zu satirischen Betrachtungen einladen mögen.

Aufschlussreich sind endlich einige Studien zu Gelehrtenkohorten. Johannes Wischmeyer befasst sich eingehend mit sozialer Herkunft und Wirksamkeit von protestantischen Theologen im Nachmärz, 1850–1870 (S. 33–67). Barbara Stambolis hat 44 Historiker des durch Krieg und Nachkriegszeit geprägten Jahrgangs 1943 in Interviews zu ihrem Werdegang befragt (S. 199–215). Besonders lehrreich ist jedoch die Studie von Peter Meusburger und Thomas Schuch zu Karrieren, sozialer Herkunft und räumlicher Mobilität Heidelberger Professoren von 1803–1932 (S. 217–249), vor allem weil sie aufgrund der Heidelberger Erfahrungen immer wieder Kriterien für eine Aufwärtsspirale der Universitätsentwicklung formuliert. Wenn herausgestellt wird, dass eine bereits renommierte Universität geeignete Bewerber mit höherer Wahrscheinlichkeit zu einer Bewerbung veranlassen und diese dann auch im Auswahlverfahren erkennen wird (S. 220–221), dass sie Berufungs- oder Bleibeverhandlungen nutzt, um gezielt die Forschungsinfrastruktur und die Personalausstattung eines Instituts zu verbessern (S. 243), und dass sie sich generell dadurch auszeichnet, dass gerade erfahrene Professoren zu ihr streben (S. 245), so würde man diesen Aufsatz gerne beispielsweise der gegenwärtigen Basler Universitätsleitung zur Pflichtlektüre machen.

Ein letzter Beitrag von Suchoples vermittelt einen faszinierenden Blick auf polnische Gelehrte und Studenten an der Berliner Universität von 1820 bis in die unmittelbare Gegenwart – ein völlig unbekanntes bzw. übersehenes Kapitel einer insgesamt doch sehr beachtlichen Präsenz (S. 251–271). Ausser Slawisten waren vor allem Naturwissenschaftler und Mediziner erfolgreich.

Systematik kann bei einem solchen Bande kaum verlangt werden. Er bietet denn auch einen farbigen Strauss von Beiträgen mit ganz unterschiedlichen Ansätzen, wobei in Thematik wie durch die Teilnehmer ein Heidelberger Netzwerk (positiv) in Erscheinung tritt. Natürlich wäre auch die Lebenswelt der Akademiker noch durch weitere Gesichtspunkte genauer zu erschliessen. Etwa durch die Verschränkung hervorragender Gelehrter mit der Ebene der Ministerialbürokratie, wie sie im ‘System Althoff’ in Preussen vor dem Ersten Weltkrieg besonders erfolgreich praktiziert worden ist, aber auch in zahlreichen Beiräten weiterhin existiert. Moderner durch die Institutionen zur Wissenschaftsförderung, in Deutschland vor allem durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, in der Schweiz durch den Nationalfonds, deren Gutachterwesen viele Ansätze für Einfluss und Netzwerkbildung bietet.

Zitierweise:
Jürgen von Ungern-Sternberg: Rezension zu: Eberhard Demm, Jarosław Suchoples unter Mitwirkung von Nathalie Chamba (Hrsg.): Akademische Lebenswelten. Habitus und Sozialprofil von Gelehrten im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main, Peter Lang, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 523-525